Aus reiner Liebe
über die deutsch-spanische Komponistin Maria de Alvear, von Raoul Mörchen
"De Puro Amor", "En Amor Duro" - "Aus reiner Liebe", "In harter Liebe": große weiße Din-A-3-Bögen im Querformat, Notenlinien, die nirgendwo enden wollen und von keinem Taktstrich zerteilt werden. Darauf Punkte und Striche, wenige Noten, in offensichtlicher Eile zu Papier gebracht. Kein Tempo ist vorgeben und nur selten ein Hinweis zur Dynamik. Die Noten in den Systemen für die linke und die rechte Hand sind weit voneinander entfernt, wahren Distanz. Selten nur verdichten Akkorde die spröde Klangbewegung. Manchmal reißen Töne in extremen Lagen den engen Hörraum auf, können dessen mächtige Gravitation aber nicht gefährden. Kleine Tonschritte und lange, nicht enden wollende Repetitionen halten die Musik in der Mitte. "Man könnte meinen," so kommentiert Maria de Alvear diese Partituren, "ein Fünfjähriger hätte sie geschrieben, jemand, der keine Noten schreiben kann - so hilflos sehen sie aus. Aber natürlich konnte ich Noten schreiben. Ich habe bloß vollkommen Tabula rasa gemacht."
Viele Bögen hat Maria de Alvear so beschrieben. Jedes der beiden 1991 in schneller Folge entstandenen Klavierstücke dehnt sich über mehr als eine Stunde aus. Warum das so ist, kann man der Musik nicht ansehen. Vielleicht aber kann man es hören, vielleicht spürt man wie die Komponistin, daß die Musik genau diese Zeit benötigt. Eine Analyse der Partituren jedenfalls wäre wenig hilfreich. Kein Bauplan, keine logische Architektur ließe sich ermitteln. Maria de Alvear hat diese Musik nicht konstruiert, sondern sie nur niedergeschrieben: "In meiner Kindheit habe ich aus dem Drang heraus ganz viele automatische Stücke geschrieben. Aber das geschah eben aus einem Drang heraus, das war eigentlich eine Lüge. Aber dann, 1989/90, ich kann mich noch genau erinnern, habe ich mich einen Nachmittag hingesetzt und hab ein Stück geschrieben, automatisch geschrieben, das meiner Ansicht nach das wichtigste Stück in meinem Leben ist, und das war Klavierstück "De Puro Amor" - "Aus reiner Liebe". Und es war wirklich geschrieben aus reiner Liebe. Es war der Punkt, der mich mit meiner Kindheit zusammen brachte. Plötzlich habe ich verstanden: da war es. Es war ein Geschenk. Eines nachmittags habe ich das Ding einfach hingeschmissen - und das war auch der Einstieg wieder in das Schreiben von Musik."
Im Automatischen Schreiben, in der écriture automatique, hat der Surrealismus mit André Breton einen Weg ins eigene Ich finden wollen - ein technischer Kunstgriff sollte die Blockade der Vernunft durchbrechen und zum Unbewußten vordringen, um, so Breton, "das wirkliche Funktionieren des Denkens zum Ausdruck zu bringen." Maria de Alvears Technik des Automatischen Schreibens, mit der ein großer Teil ihrer Partituren entsteht, will gleichwohl nicht tiefer ins Ich, sondern gerade aus dem Ich heraus. Ihr automatisches Schreiben, so erklärt die Komponistin, ereigne sich im nicht-denkenden Zustand. Es sei vergleichbar mit dem Spiel eines Affen, der Dinge in die Hand nimmt, anschaut, untersucht, sich dann wieder - aus Langeweile oder bedingt durch einen neuen Reiz - etwas anderem zuwendet und so fort. Immer wieder schweift beim Automatischen Schreiben die Aufmerksamkeit von einem Ding zum anderen, ohne Absicht, ohne Richtung. Automatisches Schreiben, so Maria de Alvear, schafft einen Freiraum fern von Zwängen und Zwecken, fern von Gesellschaft und fern von eigenen Emotionen. In diesem Freiraum richtet sich die Konzentration allein auf die musikalische Energie und das Erlebnis der Gegenwart und öffnet sich auf diesem Wege für spirituelle Erfahrungen.
Spirituelle Erfahrungen sind der Nährboden für die Arbeit Maria de Alvears: als persönliches Erlebnis und als Botschaft ist das Spirituelle ihrer Kunst ins Mark geschrieben und wird dort gegen die Allmacht abendländischer Rationalität verteidigt. "Verständnis, das sich abseits unseres Gehirns ereignet, wird nicht akzeptiert als Verständnis und schon gar nicht als Wissen", kritisiert Maria de Alvear. "Es wird noch nicht einmal wahrgenommen als solches Wissen. Das ist das Problem. Es gibt ein Haufen Wissen, von dem die Menschen gar nicht wissen, daß sie es haben - weil ihr Gehirn es nicht akzeptiert als Wissen. Der Maßstab, an dem sie sich messen, ist immer die Rationalität. Es gibt aber ganz verschiedene Arten von Wissen. Es gibt auch das spirituelle Verständnis. Das aber ist nur erfahrbar ist durch die spirituelle Erfahrung und bleibt natürlich unverständlich für Leute, die diese spirituelle Erfahrung nicht haben - vergleichbar mit körperlichen Erfahrungen, die nicht transmittierbar sind. Wir kommen da in Bereiche, die in unserer Zivilisation einfach keine Tradition der Auslegung haben. Wir haben keine Wissenschaft der Seele - abgesehen von der Psychologie, die aber - als Psycho-Logie - rational und damit widersprüchlich ist. Es gibt keine "escuola del alma" oder "escuola del espirito".
Maria de Alvear ist Spanierin und auch Deutsche, nicht halb Spanierin, halb Deutsche. Daß sie sich nicht auf die ein oder andere Heimat festlegen will, sondern beide für sich beansprucht, kann bei einer Künstlerin nicht weiter überraschen, deren Kunst sich der Transzendenz, also dem Überschreiten von Grenzen verpflichtet hat: dem Überschreiten nationaler und kultureller Grenzen, Grenzen der Ästhetik und auch Grenzen der Erkenntnis.
Ihre Mutter stammt aus Deutschland, dem Land, in dem Maria de Alvear selbst seit nunmehr 20 Jahren lebt. Geboren aber ist sie 1960 in Spanien, dem Land ihres Vaters. Kunst und Kultur spielten von Kindesbeinen an eine wichtige Rolle für Maria de Alvear. Ihre Mutter, eine enthusiastische Kunstsammlerinnen, die heute einer der bedeutendsten privaten Sammlungen des Landes besitzt, brachte ihr die Musiktradition Deutschlands nahe, ihr Vater, ein angesehener Architekt, erschloß ihr die iberische Kultur. Vor der gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Enge des Franco-Regimes bot das Elternhaus einen wichtigen Schutz: Im großbürgerlichen Madrider Haushalt der de Alvears trafen sich Künstler wie Mirò, Tàpies und Rivera, und schon als Achtjährige erhielt Maria de Alvear Klavierunterricht bei dem Komponisten Eduardo Pollonio, einem Freund und Kollegen Luis de Pablos. Orgel-, Cembalo und Kompositionsstunden kamen später dazu.
Nach ihrem Abitur in der Deutschen Schule von Madrid besuchte sie in Mainz einen Kompositionskurs von Mauricio Kagel. Maria de Alvear entschloß sich, in Deutschland zu bleiben. 1980 begann sie ein Studium in Kagels Klasse für Neues Musiktheater an der Kölner Musikhochschule - und schlug damit beruflich wie privat ein neues Kapitel auf: "Ich bin in einer kleinen Box aufgewachsen. Ich mußte da einfach raus. Die Franco-Ära hat meine Kindheit sehr einengt. Relativiert wurde diese Enge gottseidank durch die Phantasie meines Vaters, der ein ganz großer Träumer gewesen ist, und meine Mutter, die sich mit der intellektuellen, politischen, pseudo-katholischen Dummheit Spaniens in der Franco-Zeit nicht abfinden konnte - und sehr darunter litt. Ich habe das miterlebt, wie zwei Menschen wirklich für die eigene Freiheit, für die individuelle Freiheit gekämpft haben - in einer sehr schwierigen, auch politisch schwierigen Situation. Das hat mich geprägt. Es ging um Räume, es ging um Erweiterung von Räumen."
Darum geht es heute noch, immer wieder. Ihr Hörspiel "El secreto del circulo" (1997) findet für dieses Thema - in Anlehnung an Alvin Luciers "I am sitting in a room" - eine so einfache wie ungemein poetische ausgeführte Allegorie: Eine Blume wird darin von einem offenen in einen geschlossenen Raum gebracht. Weil ihr das nicht paßt, fängt sie an zu stinken. Also bringt man sie wieder ins Freie: "Es ist ein Spiel mit Räumlichkeiten - das ist alles."
Der Begriff "Raum" im Denken und Schaffen Maria de Alvears meint folglich nicht bloß den realen architektonischen oder gar nur den Bühnenraum - er geht über das Faktische hinaus und weist auf den geistigen, seelischen und spirituellen Ort, an dem sich ein Mensch jeweils befindet. Ihren Lehrer Kagel hat sie mit solchem Denken endgültig hinter sich gelassen. Es waren andere Lehrer, die wichtigsten in ihrem Leben, so sagt sie, die ihr halfen, die Bedeutung von Raum weiter, universeller zu fassen und zugleich einen Weg zu finden heraus aus einer schweren Lebenskrise. Die Begegnung mit Rahkweeskeh und M.A. RuizRazo "Tsolagiu", einem Medizinmann und einer Medizinfrau vom Volk der Cherokee, brachte eine Wende. Zwischen den beiden Indianern und der Deutsch-Spanierin entstand eine enge und lange Freundschaft. Ihren Freunden, so erklärt sie, verdanke sie profunde Einsichten in die Möglichkeit spiritueller Erfahrung und der Erlangung von Wissen jenseits der Grenzen abendländischer Wissenschaft und Rationalität. Ihre Arbeit könnte Maria de Alvear von dieser Position aus auf einen neuen, festen Grund stellen.
In der Tradition des Schamanismus spielt Musik von je her eine wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen verschiedenen Räumen, zwischen dem Raum des Profanen und dem Raum des Göttlichen, dem Diesseits und dem Jenseits. Der Schamane, der durch ein existentielles, zumeist lebensbedrohliches Erlebnis zu transzendentaler Einsicht gelangt, bedient sich bei seinen Ritualen musikalischer Energien. Versteht man diese Tradition und nimmt sie ernst, erschließt sich auch der Hintergrund von Maria de Alvears neuem Ansatz: ihre umfangreichen, zumeist rund einstündigen Werke, die sie von nun an nicht mehr bloß Kompositionen, sondern eben Zeremonien nennt, entstehen aus dem Bedürfnis heraus, das persönlich erlebte spirituelle Wissen in den Kontext der abendländischen Kunst- und Geistestradition zu stellen - als Bereicherung einer aus der Balance geratenen Kultur, die ihre spirituellen Wurzeln längst vergessen hat. So will ihre Musik in schamanistischer Tradition zwischen den Welten vermitteln, zwischen Seele und Geist, Körper und Ratio, zwischen Spiritualismus und Wissenschaft. Musik, so Maria de Alvear, schafft Räume, in denen diese Vermittlung sich ereignen kann.
Die Hoffnung, aus dem Verständnis des Fremden ein besseres Verständnis des Eigenen gewinnen zu können, begleitet von jeher menschliches Streben nach Erkenntnis. Diese Hoffnung begleitete auch Maria de Alvear auf ihren Reisen zu indigenen Völkern nach Finnland, Norwegen, Sibirien und Nord-Amerika. Ihre Auseinandersetzung mit der spirituellen Tradition archaischer Kulturen, so betont sie, zielt nicht nach hinten, sondern nach vorn, beschwört keineswegs den Mythos einer verlorenen Vergangenheit, sondern erkundet Möglichkeiten menschlichen Daseins für die Gegenwart und Zukunft - und zwar nicht für ein Leben in geographischer und geistiger Ferne, sondern hier, für ein Leben auf dem Boden unserer westlichen, abendländischen Zivilisation.
Nicht zufällig erinnert vieles von dem, was Maria de Alvear sagt und erarbeitet, an das Denken und das Werk von Joseph Beuys. Beuys ist einer ihrer wichtigsten künstlerischen Anknüpfungspunkte. Die Parallelen zwischen den beiden sind zahlreich - sie beginnen beim allgemeinen Interesse an der künstlerischen Erschließung archaischer Kulturen und ihrer schamanistischen Traditionen, führen über den Gedanken des "erweiterten Kunstbegriffs", der die Trennung von künstlerischer und alltäglicher Kreativität ablehnt, bis hin zu einem Energie-Begriff, der weit über den der Wissenschaft hinaus geht: "Ein Stück von mir ist ein Moment, in dem viel Energie zusammenkommt: Musiker, meine Musik, das Publikum, die Beleuchtung, die Zeit in der wird leben, die Autos draußen und so weiter ... all das ist Konzentration von Energie in einem Punkt. Die Musik nimmt diese Energie nicht nur auf, sondern beeinflußt sie auch. Im Grunde genommen ist es wie bei einer Satelliten-Schüssel, wo Kraft aufgenommen wird und umgesetzt wird. Und ich versuche, mit dieser Kraft so damit umgehen, daß das Prinzip des Lebens verstärkt wird."
Entfacht und gebündelt wird diese universelle Energie in der Musik Maria de Alvears - und auch hier liegt eine wichtige Verbindung zu Joseph Beuys - häufig in festen rituellen Formen und mit der Künstlerin selbst als Hauptakteurin in der Rolle des Schamanen. So erschließt sich etwa "Mar" für drei Stimmen und Schlagzeug, entstanden im Jahr 1998, in weiten Teilen als ein Beschwörungs- und Feierritual des Elements Wasser. "Raices IV" von 1992 wiederum legt in der Verwendung eines Hirsch-Kadavers und der Wahl einer mittelalterlichen Kirche als Aufführungsort der Zeremonie die Assoziation mit einem Opferritual nahe. (Zu diesem Stück - das bei einigen Tierschützern auf verständnislose Kritik stieß - muß freilich angemerkt werden, daß das Ritual den Hirschen gerade aus seiner herkömmlichen, aber unverstandenen Opferrolle befreien soll. In "Raices IV" endet das Tier einmal nicht in den Mägen seiner Jäger. Seine feierliche Einbindung in die Zeremonie und seine anschließende weidmännische Bestattung gibt ihm jene natürliche Würde zurück, die er als bloßes Glied einer unreflektierten Nahrungsmittelkette längst eingebüßt hat.)
Ein Initiationsritual - und eine besonders offensichtliche Verneigung vor dem Vorbild Beuys - ist das Werk "Hoja". "Hoja" (Blatt) ist ein Weiheakt für einen kleinen Eichenbaum, um den die Künstlerin bei der Uraufführung 1997 in der Kölner Antoniterkirche - wie sonst nur um ihre Musiker - zum Schutz einen Energiering aus Salzbrocken zog. In einer rund halbstündigen Performance umkreisen den jungen Baum weitschweifende, changierende Vokalisen, die über einem dröhnenden Orgelcluster immer wieder neu mit großer Kraft wie zu einem Flug ansetzen. Die Eiche, über goldene Fäden mit der Orgel verbunden, steht da wie ein kleines Kind, das auf seine erste Kommunion wartet. Nach der Zeremonie wird der junge Baum ins Leben entlassen. Maria de Alvear pflanzte ihn in einen Kölner Park und ließ neben ihn - um die Parallele zu Beuys Kasseler Eichen-Aktion [Fußnote: "7000 Eichen", Documenta 7, Kassel 1982 (bis 1987)] perfekt zu machen - eine Stele aus Basalt errichten. Der Einfluß der bildenden Kunst auf die Arbeit Maria de Alvears fängt bei Joseph Beuys jedoch nicht an und hört auch dort nicht auf.
Es scheint ohnehin geboten, darauf hinzuweisen, daß die Berührungspunkte ihrer Musik mit der bildenden Kunst weit zahlreicher und wichtiger sind als mit zeitgenössischer oder historischer Musik. In den jüngsten Werken ist sogar die Tendenz zu beobachten, Anklänge an tradierte musikalische Modelle, Figurationen und Idiome gänzlich zu vermeiden. Hat sich, so argwöhnte schon der amerikanische Komponist Morton Feldman, die Musikgeschichte immer wieder darauf beschränkt, musikalisches Material einer hierarchisierenden Kontrolle zu unterwerfen, so sucht Maria de Alvear nun sehr gezielt nach einer Alternative zum überkommenen Strukturalismus und seinen ideologischen Implikationen. In zweierlei Hinsicht entsprechen vor allem ihre jüngsten Arbeiten wie das Klavierkonzert "World" (1996) oder das Ensemblewerk "Sexo Puro" (1998) nicht mehr der tradierten Vorstellung von einer musikalischen Komposition. Erstens ist ihr Material weder hierarchisiert noch überhaupt strukturiert, genau genommen nicht einmal komponiert, das heißt: hier handelt es sich nicht mehr um eine Architektur, die zusammengefügt ist aus separaten Einzelteilen, sondern um den Versuch eines monolithischen Erlebnisganzen. Und zweitens - und damit eng verbunden - fehlt diesen Werken, ebenso wie früheren, jeglicher Objektcharakter. Stellt sich der Zuhörer außen vor die Musik wie vor ein objekthaftes Kunstwerk und will er sie nur beobachtend wahrnehmen, verfehlt er deren Eigenart. Statt Distanz zu wahren, muß er in die Musik hinein treten und sich ganz von ihr umschließen lassen.
Noch einmal sei ein Querverweis zur bildenden Kunst erlaubt, um die feste Verankerung der Arbeit Maria de Alvears in der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte zu unterstreichen - und zwar ein Verweis zur Ästhetik Barnett Newmans und Mark Rothkos, deren Farbfeldmalerei schließlich sehr ähnlichen Zielen folgt: auch sie will den Menschen in ihre eigene Welt, die Kunstwelt, hineinziehen und ihn dort überwältigen. Ein radikaler Antiformalismus und die großen Formate der Bilder sollen ein Verharren des Zuschauers außerhalb des Bilds unmöglich machen und ihn weg vom Betrachten und hin zum rückhaltlosen Erleben bringen. Die Ästhetik des sogenannten all-over, die Ästhetik der Totale, führt zurück zum Begriff des Erhaben. Der Kunsthistoriker Robert Rosenblum hat in diesem Zusammenhang auf Caspar David Friedrichs Gemälde "Mönch am Meer" verwiesen und auf die spätere Verschiebung der Betrachtungsschwelle ins Bild hinein: betrachtet bei Friedrich der Zuschauer einen Mönch, der im Angesicht der endlosen und formlosen Natur vom Gefühl des Erhaben ergriffen wird, so steht nun der Betrachter der Bilder Newmans oder Rothkos selbst im Bild, genau dort, wo früher der Mönch stand. Das Kunstwerk wiederum übernimmt die Rolle der Natur. Das Kunstwerk ist nun der Ort, an dem sich das Absolute offenbart.
[Fußnote: Robert Rosemblum, "The Abstract Sublime". In: ARTnews 59, Nr.10 (Februar 1961)]
Der Weg zum Kunst-Konzept Maria de Alvears ist von hier nicht mehr weit. Antiformalismus, große Formate, Kräfte- und Energiefelder, Eintauchen statt Distanzieren, Erleben statt Analysieren: die Ähnlichkeit der künstlerischen Mittel und Zielsetzung ist offensichtlich. Der Vergleich gewinnt sogar noch an Schärfe, bedenkt man das historische Erbe der Farbfeldmalerei: Als Teil des sogenannten Abstrakten Expressionismus wurzelt sie sowohl im Surrealismus und dem automatischen Schreiben als auch im sogenannten Primitivismus und dessen Wiederentdeckung der Kunst amerikanischer Indianer.
Im Bemühen um eine Musik, die Räume schafft, in denen der Mensch seinen Abstand zu sich selbst und zur Natur erkennen und vielleicht daraus lernen kann, kreisen Maria de Alvears Arbeiten beharrlich um das universelle Thema Natur: fast alle Werke der vergangenen Jahre beziehen sich schon im Titel auf sie, heißen etwa "Calor" - Wärme, "Soles" - Sonnen, "Raices" - Wurzeln oder "Luces" - Lichter. Andere Werke behandeln Liebe und Sexualität. Sie weichen damit nicht vom eigentlichen Kernthema Natur ab, spezifizieren es vielmehr.
Unmittelbar nach ihrem großen Klavierdyptichon "De Puro Amor" und "En Amor Duro" und der ersten Reise zu den Cherokee-Indianern entsteht Anfang der neunziger Jahre ein anderes Werkpaar, in dem Maria de Alvear eigene schmerzliche wie glückliche Erfahrungen verarbeitet und zu einer überpersönlichen Geltung bringt. Es sind dies die Kompositionen "Sexo" und "Vagina", beide für Ensemble und wie so häufig mit der Komponistin selbst als Gesangsolistin.
Während "Vagina" in einer Tierparabel die Geschichte einer tief verstandenen und empfundenen Sexualität erzählt, durchlebt in "Sexo" eine Frau Sexualität mit all ihren Schattenseiten. "Sexo" ist ein dunkle Metamorphose der Liebe und Sexualität von Tod und Zerstörung über Rache und Wut bis hin zur Hoffnung auf eine Liebe und Sexualität, die aus Verantwortung und Respekt erwächst. "Sexo" geht den Weg Maria de Alvears - weist auf erlittene Wunden, am Ende aber auch über sie hinaus auf eine weise Welt, die solches Leid nicht mehr kennt: "Sexualität ist der Schlüssel zum Respekt der Natur und des Lebens."
Manuskript einer Hörfunksendung für den Deutschlandfunk, Köln, (Erstsendung: 19.6.1999), erweitert für den Hessischen Rundfunk (Erstsendung: 21.9.199 ), hier wiedergegeben in einer leicht überarbeiteten Fassung, die in MusikTexte, Heft 80, August 1999, S. 4-9, erschien. Alle Rechte beim Autor.